Schwerkraft – Fliehkraft
Dietrich Klinge und Hartwig Ebersbach in der Schweinfurter Kunsthalle
Text: Renate Freyeisen | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Fünf überlebensgroße, menschenähnliche Plastiken empfangen die Besucher vor der Kunsthalle Schweinfurt und irritieren zunächst durch ihre wuchtige Masse, die groben, wie herausgehauenen Gesichtszüge und die kraftvolle, scheinbar beschädigte Körperlichkeit. Wer meint, es handele sich hier um hölzerne Skulpturen, wird schnell eines Besseren belehrt, wenn er hinklopft: Die Figuren sind aus Bronze, hohl und täuschen durch die Oberfl ächenstruktur und die wie verwitterte Farbe nur vor, sie seien aus dem organischen Material Holz. Dietrich Klinge hat sie geschaff en, und der aus dem thüringischen Heiligenstadt stammende, heute in Mittelfranken lebende Bildhauer, Jahrgang 1954, hat damit gewiss nicht dem Ideal eines sozialistischen Realismus der damaligen DDR entsprochen.
Denn die Figuren haben etwas gewaltsam Zerstörtes an sich, scheinen wie nach Befreiung, nach Hilfe zu rufen, ruhen aber in sich, sitzen fest, auch wenn sie wie Gordian VII praktisch ihrer Mitte, ihres Rumpfes verlustig gegangen sind; die meisten scheinen sich zu schützen, sind in ihrer Bewegung erstarrt, durch ihr Gewicht gebunden an die Erde.
Diese Figuren ziehen den Betrachter dann magisch in die Kunsthalle, zur Ausstellung „Schwerkraft – Fliehkraft“, einer Installation von acht weiteren großen, skulpturalen Plastiken Klinges auf dem Boden der Halle, im Kreis sitzend, stehend oder liegend, im Dialog mit heftig nach oben strebenden, farbstarken Bild-Reliefs, kraftvollen, von impulsiv gestischen Malbewegungen geleiteten Gemälden von Hartwig Ebersbach, geboren 1940 in Zwickau.
Farbgewitter
Auch solche ans Informel erinnernde Malweise entsprach keineswegs dem, was in der DDR „offiziell“ gefragt war. Ebersbach hatte zwar bei Bernhard Heisig in Leipzig studiert, war aber dann erst einmal auf anderen kulturellen Feldern tätig gewesen, etwa als Messe- und Ausstellungsgestalter, nahm jedoch bald die Strömungen der Kunst aus dem Westen in sich auf, wurde Mitglied der experimentellen Gruppe 37/2, konnte experimentelle Kunst an der Leipziger Hochschule lehren und unternahm nach der Wende Reisen in die USA, nach Südafrika, Australien und häufig nach China. Gerade die Kalligraphie inspirierte ihn dazu, dicke Farbpasten als „expressive Seelenschau“ auf großformatige Leinwände aufzutragen und dabei sich selbst als „Haruspex“, als Wahrsager zu fühlen, der in seinen impulsiven Träumen eine Art Himmelfahrt ausführt, dynamisch aufsteigende Farbgewitter entstehen lässt wie wild bewegte Wolken, bei denen oft das Rot dominiert, die sich aber beim Betrachter schnell verflüchtigen. Sie scheinen sich dann auch im Kopf der vor ihnen sitzenden schweren Figuren von Klinge abzuspielen, die als metaphorische Gestalten aus einer vergangenen Welt, als gestürzte oder überlieferte Heroen interpretiert werden können, als Träume oder unbewusste Beeinflussung, Ahnungen eines Irrealen.
Symbolträchtiges Vokabular aus der Antike
Dass beide Künstler einen Großteil ihrer Werke mit dem symbolträchtigen Vokabular aus der Antike benennen, scheint kein Zufall. So nimmt der mythische Sänger Orpheus bei Ebersbach farbige Gestalt an auf einem vierteiligen Gemälde, auf dem man mittig die Gestalt der Eurydike vermuten könnte; diese Liebe findet dann in einem lapidaren kleinen Quadrat ihr Ende. Der Haruspex taucht auf als Aufsteigender in „Himmelfahrt“ oder als scheinbar Abstürzender sowie als kopfüber Springender in einem Triptychon. Spätere, farbstarke Bilder sind 2008/2018 als Entwürfe zu Kirchenfenstern entstanden, assoziieren Engel oder einen brennenden Mann, alles Anspielungen auf Kräfte, die dem Menschen lebensbejahende Visionen geben können. Ebersbach begab sich auch in die Rolle des Kaspar in einem blutroten Kalligramm, auf dem er seine Fußabdrücke über das dreiteilige Werk verteilte und sich selbst als apokalyptischer Regenbogenreiter (nach Dürer) fühlte. Auch auf dem „Frühstück im Freien“ bezieht er sich auf einen anderen Künstler, auf Édouard Manet, indem er impulsiv Eindrücke wiedergibt, die ihm kamen als Nacherinnerung an das berühmte impressionistische Gemälde. Für ihn wird Malerei „zum virtuellen Vorgang im Nachspielen der Träume, psychodramatisch zum Akt der Deutung“; er „entmalt“ dabei sein Inneres, befreit so Farbe von der Form. Auch Klinge spielt „auf einen flüchtigen Moment der Transformation bzw. auf das Wechselspiel von Urbild und Abbild an“, so Andrea Brandl, Leiterin der Kunsthalle Schweinfurt, im Katalog. Beide Künstler gewähren einen Blick hinter das Bild vom Menschen, gespiegelt an symbolhaften Gestalten, an kraftvollen, aber irgendwie auch beschädigten Figuren, die trotz allem ihre erdverhaftete Stärke nicht verloren haben und hochfliegende Visionen und Träume durchleben, die sich schnell verflüchtigen können, aber im Bild gebannt sind.