Verbrauchte Revolution in Öl
Was erhofften sich, was befürchteten Ostdeutsche vor, während und nach dem Mauerfall? Was bewirkte die „Wende“ in der ostdeutschen Kunst und wie reagierten Künstler*innen aller Altersstufen auf den totalen Systemwandel in Politik und Alltag?
Text: Eva-Suzanne Bayer
Schon ein erster Gang durch die hochbrisante und exquisite Ausstellung „Point of No Return – Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst“ im Leipziger Museum für bildende Künste lässt Blicke tief in die ostdeutsche Befindlichkeit zu: wenig Euphorie, große Skepsis bis zur Melancholie, Existenzfragen unter graufarbenem Schleier, Maskenspiele und Sinnsuchen. Wer das deutsch-deutsche Verhältnis aus der Perspektive der Ostdeutschen wirklich kennenlernen möchte, ist in Leipzig, dem Ausgangspunkt der friedlichen Revolution vor dreißig Jahren, genau am richtigen Ort.
Gerade Künstler*innen sind die richtigen Ansprechpartner, will man Genaueres über die Situation im deutschen Osten erfahren, denn sie spürten den Umbruch besonders heftig, auch wenn sie nicht zu den staatstragenden Kunstschaffenden gehörten wie Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und Bernhard Heisig, die auch schon vor 1990 im Westen gezeigt wurden oder früher in den Westen übersiedelt waren wie Einar Schleef, Ralf Kerbach, Cornelia Schleime, Via Lewandowski, Volker Stelzmann, Lutz Friedel, Christine Schlegel, Anette Schröder, Ute Hünninger. Sie alle sind in der Ausstellung vertreten. Viele der unter dem DDR-Regime als nicht systemtreu Diffamierten und Ausgegrenzten sahen sich nach der Vereinigung ein zweites Mal diffamiert. Denn weder die gesamtdeutsche Kunstszene noch der gesamtdeutsche Kunstmarkt interessierte sich für ostdeutsche Künstler. Wurden sie überhaupt einmal im Westen gezeigt, dann im Vergleich mit der Westkunst und unter der schlecht verhehlten Prämisse der Antiavantgarde, des Epigonalen, der verschlafenen Moderne. So triff t man in Leipzig auf viele zu Unrecht unbekannte Namen und viele zu Unrecht unbekannte Werke.
Staatskünstler und Dissidenten
Was die Leipziger Schau so wichtig macht, ist nicht nur die Tatsache, dass sie die Fülle der Exponate thematisch bündelt und unter den Aspekt der Wende, ihrer Vorgeschichte und ihrer Wirkung stellt. Sondern auch, dass sie rund vierzig Jahre ostdeutscher Kunst beleuchtet, vom Ende der Siebziger Jahre bis heute, denn die Utopien eines Umbruchs begannen schon lange vor dem Mauerfall und wirken bis heute nach bei Künstler*innen, die 1989 noch Teenager waren. Der Begriff „Wende“ ist konsequent in der Ausstellung wie auch im vortrefflichen Katalog kursiv gesetzt. In Ostdeutschland erinnert man sich noch zu genau daran, dass er vom letzten Staatsratsvorsitzenden der SED Egon Krenz geprägt wurde und auf eine Kehrtwendung des DDR-Regimes gemünzt war – keinesfalls jedoch die tatsächlich stattfindende Revolution meinte. So versammelt die Schau Staatskünstler und Dissidenten, innere Emigranten und Angepasste, Reformer und Revolutionäre oft in spannungsvollem Gegenüber. Neben dem Chef des Leipziger Museums Alfred Weidinger kuratierten die Ausstellung Paul Kaiser, der Direktor des Dresdner Instituts für Kulturstudien, und Christoph Tannert, ein hervorragender Kenner der DDR-Bohème, der vor drei Jahren im Künstlerhaus Bethanien Berlin die Ausstellung „Das Ende vom Lied“ präsentierte, die die künstlerischen Reaktionen auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns zeigte. Dieser geschmeidige Titel ist in Leipzig in geschmeidiges Englisch verwandelt: Weg ohne Wiederkehr, Punkt ohne Umkehrmöglichkeit – also das Gegenteil von Wende.
Heftige Gemälde
Auf 2000 qm begegnen sich im Obergeschoss des Leipziger Museums 300 Werke von 106 Künstler*innen und bereits der große Empfangssaal ist von Widersprüchen und Widerständen so voll, dass sich die Kuratoren zu einer Petersburger Hängung, einem Neben- und Übereinander entschlossen. Betritt man den Raum, wird man sofort von einer Gruppe grauer, stehender oder hockender giacomettidürrer Gestalten aus Gips und Eisen von Frank Seidel empfangen (1983 – 90), die wie anonyme Zombies, wie ein bedrohlicher Leichenzug aus Untoten oder Aliens, einem „Großen Wagen“, einem Schindkarren, beladen mit Schrott und einer Liegefigur folgen. Hoch darüber das heftige Gemälde „Adler (Die Brüder)“ (1989) von Lutz Friedel, das mit den schwarzen gestischen Formen sowohl an Vogelschwingen (Aufbruch) wie an Fußspuren erinnert, die in gegensätzliche Richtung (Umkehr) verlaufen. Nicht weniger geschichtsträchtig ist Wolfgang Smys „Großes Stadtbad“ (1986), das bei der X. Kunstausstellung der DDR im Dresdner Albertinum ein Millionenpublikum irritierte – und als Parabel auf die Entfremdungsphänomene im Land verstanden wurde. Auf schwefelgelbem Grund attackieren sich da in einer Giftbrühe die diversen Typen der Gesellschaft, Frauen, Männer, Kämpfer (bis aufs Blut) rücksichtslose Bahnzieher, Ertrinkende. Hier und besonders in seinem Faltrollo „o.T.“ (1985) zeigt sich Smy im Gefolge des Systembildners und Standart- Künstlers A. R. Penck, der als Daheimgebliebener und gleichzeitiger Rebell in seinen Chiffre-Bildern so grandios das deutsch-deutsche Verhältnis analysierte – und erstaunlicherweise in der Leipziger Ausstellung nicht vertreten ist. Weil es in der DDR keiner wollte, wurde Smys „Stadtbad“ von Peter Ludwig für seine DDR-Sammlung angekauft, landete in der Ludwig- Stiftung Oberhausen, die mangels westdeutschen Interesses später fast vollständig in die Sammlungen des Museums für bildende Künste Leipzig überging. Auch das ist ein Teil der neueren (Kunst)geschichte Gesamtdeutschlands.
Zwei Installationen dominieren daneben dem ersten Saal. Via Lewandowski erarbeitete für Leipzig sein „Berliner Zimmer (Geteiltes Leid ist halbes Elend)“, das 2003/04 für die Ausstellung „Berlin-Moskau 1950 – 2000“ im Gropius Bau geschaffene Objekt- Arrangement in einer neuen Variante: Er zersägte just in der Mitte ein spießbürgerliches Wohnensemble samt Sofa, Tisch, Teppich und Schrank, sowie Cocktailgläser und Papagei in zwei voneinander abgerückte Hälften. Nicht nur in Berlin, auch später in Rom erhielt diese sarkastische Gleichung auf Einheit in der Trennung große Aufmerksamkeit. Henrike Naumann, 1984 in Zwickau geboren, sieht naturgemäß die DDR in ihrer Installation „DDR Noir (Schrankwand I)“ von 2018 völlig anders. In schwarze Möbel – Schrank, Regale, Metallstuhl und ein Gehäuse, das an einen sich verbreiternden Sarg erinnert – integriert sie das Selbstporträt ihres Großvaters Karl Heinz Jakob „Paar mit schwangerer Frau“ (1959) in typischer spätexpressionistischer DDR-Manier. Ein Generationenzusammenstoß, ein Kunst-Zusammenstoß. Kommentar überflüssig.
Hierzulande doch weitgehend (noch) unbekannt
Weicher prallen die Generationen in der Familie Götze und Heisig aufeinander. Schon Wasja Götze (geboren 1941) war mit seinen intensivfarbigen Gemälden, halb pseudo-naiv, halb Pop, ein kritischer Widerlöcker, der es wagte, 1988 die für jede Abbildung verbotene Mauer in greller Pinkfarbe zu malen – und mit harten Repressalien abgestraft wurde. Sein Sohn Moritz Götze, 1964 geboren, absolvierte in der DDR gezwungenermaßen zuerst eine Tischlerlehre, entdeckte den Siebdruck für sich und konnte, nach der Wiedervereinigung schnell international bekannt, ab 1994 schon die neuen Freiheiten genießen und eine Gastprofessur für Serigraphie an der École nationale supérieur des beaux-arts Paris übernehmen. Er adaptiert in seinen Gemälden populäre Leitbilder des Sozialistischen Realismus von Walter Womacka und Willi Sitte in poppigvereinfachte Ölbilder voller Ironie. Johannes Heisig, Jahrgang 1953, bleibt ganz dem offenen, stets figurativen Malstil seines Vaters Bernhard, auch seiner Lust an Symbolen und Verrätselungen verbunden. Von Bernhard Heisig stammt dann das einzig fröhliche, ja euphorische Bild der Ausstellung: Da reißt ein strahlender Kleinbürger in angedeuteter Schwarz-Rot-Gold-Bekleidung weit beide Fensterflügel auf („Der Fensteröffner“ 1989), und begrüßt aus dem geschützten Raum die frische Luft, in der er bereits die Revolution enthalten glaubt.
Wie viele politisch hochbrisante Bildhauer (u. a. Hans Scheib) und Maler*innen (z. B. Roland Borchers, Petra Flemmig, Walter Libuda, Oskar Manigk, Gerhard Kurt Müller, Roland Nicolaus, Uwe Pfeiff er, Wolfgang Peuker, Frank und Eve Rub, Arno Rink (natürlich), Jürgen Schieferdecker, Hans Tricha, Norbert Wagenbrett, Ulla Walter, Trak Wendisch) gälte es hier zu erwähnen, sind sie hierzulande doch weitgehend (noch) unbekannt. Wie viele Grafiker*innen wie Ellen Fuhr, Andeas Küchler, Klaus Hähner-Springmühl und widerspenstige Fotograf*innen wie Kurt Buchwald, Thomas Florschuetz, Frank Herrmann, Roland Jahn, Erich-Wolfgang Hartzsch aus der alternativen Kunstszene und die Allrounderin Frenzy Höhne gäbe es zu würdigen. Die 1975 in Dresden Geborene lässt in ihrer hintersinnig-witzigen Fotoserie „Auslage“ (2014) westlich Gekleidete mit West-Werbesprüchen auf Tragetüten vor verrammelten Ostgeschäften Schlange stehen.
Ein ganzer Raum ist der in Leipzig ausgebildeten Malerin Doris Ziegler (geboren 1949) gewidmet. Sie siedelt ihre Serien „Passage“ und „Übergangsgesellschaft“, entstanden zwischen 1988 und 1993, in den berühmten Leipziger Passagen an und zeigt, an Max Beckmann erinnernd, Passanten, Maskenspieler, Musikanten und Vagabunden (fahrendes Volk), bedrückt, sich selbst und anderen entfremdet, einsam und kommunikationslos, Ungewisses erwartend oder befürchtend. Sie selbst ist immer mitten unter ihnen.