Gute Orte
In zwei sorgfältig gestalteten und lektorierten Fotobänden beschäftigt sich Lothar Mayer in Bild und Text mit den jüdischen Friedhöfen in Unter-, Mittel- und Oberfranken.
Text: Jürgen Sandweg | Fotos: Lothar Mayer
Daß Jesus, wenn es ihn denn als historische Person gegeben hat (ein Bauernopfer orthodoxer Pharisäer an die römische Staatsmacht), ein beschnittener Jude war, verdeckt jedes Kruzifix mit dem hinzuerfundenen Lendentuch bis heute. Auch die spätestens um 1200, wohl im Zusammenhang mit jüdischen Migrationen in Mittel- und Osteuropa, in lebensgroßen Skulpturen an/in Kirchen postierten Allegorien der „Ecclesia“ und „Synagoge“ verhüllen mehr die Gemeinsamkeit von Altem und Neuem Testament, als daß sie den antisemitischen Affront kundtun. Was haben nun solche Gedanken mit den von Lothar Mayer fotografierten Judenfriedhöfen in Franken, zu tun? Nun: Immer geht es nicht nur um eine andere Bewertung von Trauer, Tod und Glauben an Wiederauferstehung zwischen Christentum und Judentum, sondern auch um eine oft grundsätzlich andere Sicht auf den „Lebensweg“ jedes Menschen an sich und sein Fortleben im Gedächtnis der Nachkommen, geht es um Wanderung und Seßhaftigkeit, geht es um Duldung oder Ausgrenzung Fremder. Hinzu kommt bei vielen Fotos, daß sie, naturbedingt und wiederkehrenden Besuchen geschuldet, die Jahreszeiten und damit das Blühen und Vergehen von Pflanzen zeigen und ordnende oder zerstörerische Eingriffe des Menschen nicht verschweigen.
Jede Judengemeinde hatte wenigstens zehn des Lesens kundige Männer
Was den Nutzen der beiden sorgfältig gestalteten und die Friedhöfe alphabetisch auflistenden Bücher ausmacht, ist zum einen die jedem „guten Ort“ beigefügte Karte, die auch dem kartenungeübten Benutzer die leichte Auffindung erlaubt, wissen doch oft selbst Einheimische den Weg nicht genau zu beschreiben. Darüberhinaus werden in den den Bildern beigeordneten Kommentaren die Besonderheiten jedes Friedhofs herausgearbeitet. Es handelt sich übrigens meist um Verbandsfriedhöfe, auf denen nicht nur eine Einzelgemeinde ihre Toten bestattete, sondern mehrere Judengemeinden im Umkreis. Daß eine Kulturgeschichte Deutschlands ohne die Zeugnisse des Judentums nicht denkbar ist – und das sind nicht primär die aus heutiger Sicht beschämenden spätmittelalterlichen Pogrome in zentralen Orten wie Speyer, Mainz, Worms oder Nürnberg oder die Assimilierung des Ostjudentums und der NS-Antisemitismus im 19./20. Jahrhundert – sondern mehr die wissenschaftlichen Leistungen von Rabbinern und konvertierenden Intellektuellen seit der Aufklärung, lehrt uns wie nebenbei, die Lektüre dieser beiden Bücher. Und es sollte im Gedächtnis haften bleiben, daß im Kontrast zu vielen deutschsprachigen Gemeinden, in denen der Analphabetismus bis weit ins 18./19. Jahrhundert hinein herrschte, für jede Judengemeinde wenigstens zehn des Lesens kundige Männer notwendig waren, die folglich die „Judenschule“ besucht haben mußten.
Dafür lädt uns fast jeder Blick auf vergängliche Grabsteine mit ihrer Ausrichtung nach Osten zur Besinnung auf die Totenklage wie auf das Gegenwartsverhaftetsein alles menschlichen Tuns ein. Und dieses meditative, kontemplative Grundelement unserer Menschennatur vermitteln uns viele opulente, freilich ebenso schmerzliche Fotos von Lothar Mayer. Wiederholte Märsche zu den „Fundplätzen“, ebenso Lektüre-Stunden für die jeweils auch im Anhang ausgewiesene Sekundärliteratur und die gründliche Vertiefung in das Judentum als solches erweisen den „guten Orten“ indirekt ihre Reverenz, wobei auch immer wieder der bekanntlich scharfzüngige (und selbstkritische) jüdische Witz zu seinem Recht kommt. Daß hier der gesellschaftskritische und politologisch versierte Autor in fast jedem Artikel bedenkenswerte aktuelle Bezüge zur fatal palästinenserfeindlichen Innen- und Außenpolitik Israels oder zur „rechten Szene“ in Deutschland herzustellen versteht oder insgesamt die historiographischen Kontinuitäten und Diskrepanzen reflektiert, ist ein weiteres Verdienst beider Bücher. Zudem sind die jedem einzelnen Band beigefügten Glossare sowie die Listen jüdischer (Grabstein-)Symbole nicht bloß als Verständnishilfen, sondern auch als geschichtswissenschaftliche Reflexionen zu verstehen.
Besondere Judenfriedhöfe
Auf drei Artikel über je einen unter-, mittel- und oberfränkischen Judenfriedhof soll noch näher eingegangen werden. Etwa der Judenfriedhof in Baiersdorf. Die dicht gepackt stehenden massiv verwitterten Burgsandsteingrabsteine, hier einmal nicht nach Osten ausgerichtet, sondern zur örtlichen Synagoge dieses einzugsreichen Verbandsfriedhofs hin, faszinieren jeden, der das zu sehen bekommt. Was jüdische Mitbürger immer wieder nicht nur für ihre jüdischen Mitbürger, sondern auch für Christen in dem Ort an Mitbürgerlichkeit geleistet haben, macht der Autor sympathisch klar. Und daß der gesamte Judenfriedhof seit jeher innerhalb der alten Stadtmauern steht, ist eine mit Kopfnicken notierte Besonderheit. Schließlich werden auf den Abbildungen die noch gut lesbaren Symbole jüdischer Gläubigkeit präsentiert. Mit der schändlichen Ermordung 1980 eines noch immer im Erlanger Gedächtnis fortlebenden emanzipierten Paares, Shlomo Levin und Frida Poeschke, ist leider der bereits im 16. Jahrhundert urkundlich belegte Judenort Ermreuth kontaminiert. Denn hier trieb die auch gerichtsmassig und medienträchtig negativ gewürdigte „Wehrsportgruppe Hoffmann“ ihr Unwesen.
Der nur zu Fuß erreichbare Judenfriedhof ist schon wegen seiner entlegenen Lage oberhalb alter Kirschbäume sehenswert, und seine über 200 Grabsteine (1822 soll ein Drittel der Einwohner Ermreuths jüdisch gewesen sein!) bieten, locker gereiht, einen heiteren Anblick.Und schließlich finde ich den im Talgrund der berühmten Weinlage Julius-Echter-Berg und des Schwanbergs gelegenen Judenfriedhof von Rödelsee bei Iphofen interessant. Mit diesem so lieblich und großräumig angelegten Verbandsfriedhof (für über zwanzig Judengemeinden im Mainfränkischen) waren fast von Beginn an Schändungen, Ermordungen und Vertreibungen verbunden. Die Premium-Weinlagen ringsum reizen ganz nebenbei zu der Frage, wie der koscher lebende Juden mit dem Thema „Wein“ umgeht. Zunächst denkt man vermutlich an den Weinhandel, bis heute für Kitzungen ein touristisches Merkmal, dann findet man im Unterfranken-Band in dem Beitrag über den jüdischen Friedhof in Hüttenheim alles Wissenswerte. Generelles Fazit somit: Ohne Lothar Mayers Wirken stünden wir mit unserem schütteren Wissen über wichtige Relikte jüdischen Lebens in Franken ärmer da und würden damit auch unserer untilgbaren Verantwortung für die Geschichte und Zukunft unserer Heimat nicht gerecht.