Von allen für alle
Dank eines erweiterten Kulturbegriffes werden inzwischen auch Sitten und Gebräuche, Traditionen, Handwerkstechniken, künstlerische Fertigkeiten und selbst Spiele zum schützenwerten Kulturerbe der Menschheit gezählt. Die UNESCO kümmert sich auch um unser Immaterielles Kulturerbe.
Text: Eva-Suzanne Bayer | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Angenommen, Ihr Tageslauf beginnt mit Kneippen (Wassertreten nach Sebastian Kneipp) und einem Frühstück mit verschiedenen Brotsorten. Womöglich sind Sie dann als Hebamme, Glasbläser, Flößer, Vergolder oder Kunstdrucker tätig, verfertigen Schmuck in Handarbeit oder befinden sich gerade auf der Walz. Abends, nachdem Sie Ihren Kindern Märchen erzählt haben, gehen Sie in Ihren Amateur- oder Posaunenchor, zu einem Orgelkonzert, ganz allgemein ins Theater oder in ein Orchesterkonzert, zum Poetry-Slam oder ins Mundarttheater. Auch wenn Sie lieber Skat spielen oder in Ihrem Schützenverein trainieren, ändert das nichts daran: im Laufe des Tages sind Sie mehrfach mit dem Immateriellen Kulturerbe Deutschlands in Berührung gekommen, selbst wenn Sie sich es gar nicht gemerkt haben. Denn das war das erklärte Ziel bei der Schaffung des Immateriellen Kulturerbes (IKE): möglichst viele Menschen einer Nation sollen sich mit den in den Listen aufgenommenen Sitten und Bräuchen, den Traditionen und Handwerkstechniken, den Festen und kulturellen Einrichtungen identifizieren, sie am Leben erhalten und die Praktiken an den Nachwuchs weitergeben.
Kultur ist ein lebendiger Prozess
Wie schon an der Aufzählung ersichtlich, ist nicht leicht nachvollziehbar, welche Kriterien darüber entscheiden, wer und was in die Nationale, gar Internationale Liste des IKE der UNESCO aufgenommen wird. Ein Gespräch mit der Pressesprecherin der deutschen UNESCO- Kommission Katja Römer soll Klarheit verschaffen. Die temperamentvolle junge Frau empfängt in Bonn in einem wunderschönen Reihenhaus aus der Gründerzeit, dem Sitz der deutschen UNESCO-Kommission. Das kleine Büro im 2. Stock ist über eine spürbar (und hörbar) denkmalgeschützte steile Treppe zu erreichen.
Die UNESCO Welterbestätten, die Kultur- aber auch Naturstätten von einzigartigem Wert umfassen, sind jedem bekannt. Reiseveranstalter werben damit, wie viele Welterbebauten oder –anlagen während einer Tour besichtigt werden, Städte schmücken sich mit dem Logo, allerorts wird viel getan, die „Einzigartigkeit, Authentizität und Integrität“ (so die Formulierung der UNESCO) der Baudenkmäler, Altstadtkerne, Kultur- und Naturanlagen zu erhalten und zu bewahren. Wird ein „Welterbe“ zerstört, wie Palmyra, oder durch Neubauten verschandelt, wie das Elbtal bei Dresden durch die Waldschlösschenbrücke, schafft es die Nachricht bis in die Tagesschau oder in Talkshows. Zu Recht: was da verloren geht, ist ein Stück Menschheitsgeschichte, das nichts und niemand ersetzen kann. Aus diesem Gedanken wurde die Idee des „Weltkulturerbes“ 1972 geboren.
In den folgenden Jahrzehnten aber erweiterte und wandelte sich der Kulturbegriff. Kultur, so erkannte man, besteht nicht nur aus quasi musealen Kunstwerken und Landschaften, die in der Vergangenheit oder näheren Gegenwart geschaffen bzw. kultiviert wurden und die ihre Umgebung prägen wie ein Monolith oder stabiler Zeit-Zeuge. Kultur ist auch ein lebendiger Prozess, der sich aus einem tradierten Kern entwickelt, sich in lange praktizierten Sitten, Gebräuchen und lokalen Festen niederschlägt, im althergebrachten Handwerk, im Umgang mit der Natur, in besonderen Fähigkeiten und Spezialitäten, die mitunter auch über Ländergrenzen hinwegwirken. Ihnen Aufmerksamkeit zuzuwenden, sie zu bewahren, zu fördern und für die Zukunft zu rüsten und damit auch gewisse Veränderungen einzukalkulieren, war das Konzept, als die Idee des Immateriellen Kulturerbes 2003 aufkam.
Europalastigkeit beim materiellen Kulturerbe
Besonders in Asien und bei Indigenen Völkern, wo sich Kultur weniger in Gebäuden als in Festen und speziellen Fertigkeiten manifestiert, wurde die „Europalastigkeit“ beim Materiellen Welterbe beklagt. Inzwischen haben 175 Staaten das UNESCO-Übereinkommen ratifiziert, rund 470 Einträge wurden in die beiden Listen und das Register der „modellhaften Projekte zur Erhaltung von Ausdrucksformen“(UNESCO) aufgenommen. Die erste „Repräsentative Liste“ umfasst das Immaterielle Kulturerbe einer ganzen Nation, einer Region oder Bevölkerungsschicht, die im ganzen Land bekannt ist. Daneben gibt es die „Liste des dringend erhaltungsbedürftigen IKE“ (52 Einträge weltweit) und ein Register guter Praxisbeispiele (19 Beispiele). Auf der Repräsentativen Liste stehen u.v.a. der portugiesische Fado, die mexikanische Mariachi-Musik, der Rumba-Tanz aus Kuba, der Geigenbau in Cremona, Yoga aus Indien, das neapolianische Pizzabacken, die mediterrane Küche oder die Falknerei, die für 18 Länder, darunter auch Deutschland, verzeichnet wurde. Sehr viele Einträge aus China oder Indonesien, aus Japan oder der Mongolei sagen einem Europäer wenig. Vor Ort aber sind sie prägend und werden als repräsentativ anerkannt. [Eine armenische Freundin, der ich die Liste aus ihrem Heimatland vorlas, bekam bei jedem Eintrag glänzende Augen und wusste genau, was jeder Posten bedeutet. Völlige Akzeptanz und Integration also.]
Deutschland trat erst 2013 dem UNESCO-Übereinkommen bei. Wegen des komplizierten und langwierigen Verfahrens gibt es bis heute nur drei Einträge auf der Repräsentativen Liste: den Anfang machte das Genossenschaftswesen, was , so sagt Katja Römer, heftige Diskussionen auslöste, ob „so etwas“ überhaupt zum Kulturbegriff gehöre, ob die Nominierung zu unspezifisch sei, nicht „eigentlich“ deutsch (die Genossenschaftsidee stammt ursprünglich aus England), vor allem aber – zu links wäre. Gegen die Falknerei hatte dann niemand etwas einzuwenden. Im September 2018 kam dann „Orgelbau und Orgelmusik“ dazu, was auf einhellige Akzeptanz stieß. Zwar gibt es Orgelmusik auch in anderen Ländern. Doch nirgends wurde für die Orgel so viel und Großes komponiert wie in Deutschland – auch in der Moderne. Nirgends wird das Orgelspiel so gepflegt und, keineswegs nebenbei, Orgelbau und –spiel wirkten sich auch seit Jahrhunderten auf den Kirchenbau aus. Eine Messe, ein Hochamt, ein Gottesdienst ohne Orgel: undenkbar. Für die nächsten Jahre nun sind der „Blaudruck“ und die „Theater- und Orchesterlandschaft Deutschland“ nominiert. [Bei Letzterem bekomme auch ich glänzende Augen.]
Die nationale Liste
Neben den Internationalen Listen gibt es die Nationale Liste des IKE für Deutschland. Der Eintrag auf ihr ist die Voraussetzung für eine Nominierung für die Welt-Liste. Nach dem Bottom-Up-Verfahren muss zuerst die „Basis“ die Initiative ergreifen d.h. eine Trägerschaft, eine Gruppe, ein Netzwerk verfasst ein ausführliches Bewerbungsschreiben, in dem sie ihre Geschichte, ihr momentanes Wirken in die Öffentlichkeit und – das ist beim IKE besonders wichtig, – ihre Initiativen für die Weitergabe von Wissen und Können darstellt. Die Rubrik „Bräuche, Riten und Feste im Jahresverlauf“ verzeichnet dabei wesentlich mehr Anträge als die „Darstellenden Künste“ und die „Handwerkstraditionen“. Wenige Bewerbungen gibt es unter den Schlagworten „Wissen im Umgang mit der Natur und dem Universum“ und „Mündliche Erzähltraditionen“. Und mancher „Topf“ – wie das Skatspiel, das ja auch zum IKE gehört – findet gar keinen „Deckel“.
Nachdem die Bundesländer jeweils eine Vorauswahl getroffen haben, prüft die Kultusministerkonferenz die Eingänge und leitet sie – jedes Bundesland kann alle zwei Jahre bis zu vier Vorschlägen einreichen – an das zehn- bis zwölfköpfige Expertenkomitee Immaterielles Kulturerbe weiter, ein Gremium, das aus Wissenschaftlern, einem Vertreter des deutschen Handwerks, einem vom Landesverein für Heimatpflege und je einem von der Akademie der Künste Berlin und der Hochschule für Musik z. Z. Weimar und vier staatlichen Vertretern besteht. Letztere sind jedoch nicht stimmberechtigt. In letzter Instanz entscheidet dann der/die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, momentan Monika Grütters. Vier Formen des Immateriellen Kulturerbes wurden im Juni diesen Jahres in Bamberg geehrt: Künstlerische Drucktechniken des Hochdrucks, Tiefdrucks, Flachdrucks, Durchdrucks und deren Mischformen, der Further Drachenstich, das Historische Dokumentarspiel „Landshuter Hochzeit“ und die Spergauer Lichtmess. Drei „Gute -Praxis- Beispiele“ kamen hinzu: Das Bauhüttenwesen- Weitergabe, Bewahrung und Förderung von Handwerkstechniken und –wissen, die Amateurmusikpflege in Baden-Württemberg und der „Pfingsttanz“ als Basis der kommunalen Entwicklung in der Verbandsgemeinde Mansfelder Grund-Helba. Inzwischen verzeichnet die Nationale Liste 72 Einträge, darunter den Rheinischen Karneval und die Oberammergauer Passionsspiele, den „Meistertrunk“ in Rothenburg und die Sennfelder und Gochsheimer Friedensfeste, den hessischen Kratzputz oder die norddeutsche Reetbedachung. Oder die deutsche Brotkultur in ihrer Vielfalt oder das Hebammenwesen. Von etlichen Festen und Bräuchen hat man aber jenseits der lokalen Grenzen noch nie etwas gehört. Für die Region allerdings sollen sie „identitätsstiftend“ sein. Ein Wort, das häufig fällt.
Beträchtlicher Werbewert
Was aber hat man, sprich die Träger, ganz materiell davon, wenn Fest oder Handwerk Eingang in die Nationale Liste des IKE findet? Finanziell zuerst einmal gar nichts, denn die UNESCO stattet die von ihr ausgezeichneten Objekte oder Subjekte nicht mit Geldern aus. Doch schon das UNESCO-Logo, ein stilisierter Tempelportikus beim Materiellen Welterbe, eine etwas krakelige Spirale bei IKE, hat beträchtlichen Werbewert – was ohnehin touristisch überlaufenen „Events“ wie der „Landshuter Hochzeit“ noch weiteren Zulauf bringen wird. Die Ehrung, so Katja Römer, sei auch hilfreich bei Debatten um Einsparung öffentlicher Gelder, wie z.B. bei den Theatern und Orchester in Deutschland, sie erleichtere die Beschaffung von Drittmitteln und sei wichtig – besonders in letzter Zeit – um Akteuren im öffentlichen Raum bei Festen die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu gewährleisten. Nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin sind die Auflagen in punkto Sicherheit sehr hoch und eine UNESCO-Nominierung aktiviert auch die Ordnungshüter der Bundesländer.
Ein Platz auf der Nationalen Liste ist einigen Bundesländern aber immer noch nicht genug. Bayern und Nordrhein-Westphalen, seit kurzem auch Sachsen und Sachsen-Anhalt führen eine eigene Landesliste. Denn, so formulierte es Kunstminister Spaenle „Gerade in Bayern genießen die Pflege und der Erhalt immaterieller kultureller Ausdrucksformen einen besonders hohen Stellenwert“. 2018 wurden zwölf (!) Bräuche, Traditionen und Handwerkstechniken in die Bayerische Liste aufgenommen, darunter die traditionelle Dörrobstherstellung und Baumfelderwirtschaft im Steigerwald, die Agnes Bernauer Festspiele in Straubing, das Drechslerhandwerk und die Weihnachtsschützen im Berchtesgadener Land. Der Münchner Viktualienmarkt und das Oktoberfest, das man gern, aber ohne Erfolg in die Nationale, wenn nicht Internationale Liga gepuscht hätte steht schon lange auf der Bayerischen Liste. Die CSU seltsamerweise noch nicht.