Erinnerungskultur

Das Vermächtnis von Nürnberg

Im November 2010 wurde in Anwesenheit einiger Zeitzeugen das Memorium Nürnberger Prozesse im Justizpalast der Frankenmetropole eröffnet. Die Dokumentationsausstellung ergänzt das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, wo es um die Schuld, den Wahn des NS-Staates geht, um den Aspekt der Sühne, und es zeigt, daß die Nazi-Verbrecher zur Rechenschaft gezogen wurden.

Text + Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Angeklagt bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen

Im Mai 1939 war es ihren Eltern noch gelungen die damals 14jährige Hedy Epstein mit einem Kindertransport, wie sie vom November 1938 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 auf Vermittlung der niederländischen Bankiersfrau Geertruida Wijsmuller-Meyer („Tante Truus“) stattfinden konnten, aus Deutschland heraus ins sichere England zu schicken. Hedy Epstein gehörte zu den etwa 10 000 jüdischen und „nicht-arischen“ Mädchen und Jungen bis zu einem Alter von 17 Jahren, die so den national­sozialistischen Vernichtungslagern entkamen und von denen die allermeisten ihre Eltern nie mehr wiedersahen. Auch Hedy Epsteins Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Wenige Jahre später, 1946, gehört die inzwischen 22-jährige Frau zum Team der amerikanischen Anklagebehörde in einem der zwölf Nachfolgeprozesse der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse – sie war am 15. August 1924 in Freiburg geboren – ist sie beauftragt, Beweismittel zu recherchieren und für die Untersuchungskommission bereitzustellen. Sie mußte – zumeist in Berlin – für den Prozeß gegen 19 Ärzte und einer Ärztin (NS-Ärzteprozeß) Dokumente sichten, die belegten, daß die Angeklagten in den Konzentrationslagern unmenschliche, eigentlich unbeschreibliche, „medizinische“ Experimente an Inhaftierten durchgeführt hatten. Verbrechen, von denen Hedy Epstein bis zu diesem Zeitpunkt nichts gewußt hatte und die sie nun ihr Leben lang nicht mehr vergessen sollte.

Erinnerung ist ansteckend

Ein schon durchaus langes Leben: 86jährig steht die kleine, grauhaarige Frau – von einer feinen, alten Dame zu sprechen wäre wohl angemessener – am Vortag der offiziellen Eröffnung des Memoriums, am 20.  November 2010, ernsten Blicks im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes, in dem damals die Prozesse stattfanden. Der Gerichtssaal sieht heute noch so aus wie vor 65 Jahren. Und wenn die Feststellung, wonach Erinnerung ansteckend sein kann, etwas bedeutet, dann hat man als Beobachter dieser Szene jetzt den Eindruck, irgendwie zu „wissen“, was in der kleinen Frau

Hedy Epstein – die Bürgerrechtlerin ist 91jährig am 26. Mai 2016 in St. Louis / USA gestorben.

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vorgeht, die jetzt von Journalisten umringt ist. Man weiß es natürlich nicht. Nur wie soll man das Gefühl beschreiben, das einen unweigerlich befällt, die Stimmung, den Ernst, die Behutsamkeit, mit der letztlich selbst der ganze Pulk an Journalisten, Fotografen, Kameraleuten ein Stockwerk über dem Gerichtssaal gemeinsam mit der Zeitzeugin Hedy Epstein die in jahrelanger Arbeit von Hans-Christian Täubrich, dem Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, Henrike Zentgraf, Dr. Eckart Dietzfelbinger und Dr. Alexander Schmidt konzipierte und zusammengestellte Dokumentation der Nürnberger Prozesse gewissermaßen „abnimmt“. Auf rund 750 Quadratmetern mit großformatigen Bildtafeln veranschaulicht die Dokumentationsausstellung die unmittelbare Vorgeschichte, den Verlauf und schließlich die Folgen dieses ersten internationalen Strafverfahrens, bei dem sich Individuen persönlich für Verbrechen gegen den Frieden (1.), für Kriegsverbrechen (2.), also Verletzung des Kriegsrechts, insbesondere der Haager und Genfer Konvention, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit (3.), womit die Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Zivilpersonen aus politischen, religiösen und rassischen Gründen gemeint war, und schließlich wegen Verschwörung gegen den

Robert H. Jackson

Weltfrieden (4.) zu verantworten hatten. Darauf hatten sich die vier Alliierten (USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion) am 8. August 1945 im Londoner Vier-Mächte-Abkommen in dem „Statut für den Internationalen Militärgerichtshof (IMT)“ nach schwierigen Verhandlungen geeinigt. Bereits am 18. Oktober 1945 überreichten die vier Hauptankläger zur Eröffnungssitzung des Gerichtshofes, die noch in Berlin stattfand, die Anklageschriften gegen 24 NS-Hauptkriegsverbrecher sowie gegen sechs „verbrecherische Organisationen“: Reichsregierung, Führerkorps der NSDAP, Schutzstaffel (SS) und Sicherheitsdienst (SD), Sturmabteilung (SA), Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht, sowie die Geheime Staatspolizei (Gestapo). Der Prozeß wurde ab dem 20. November 1945 in Nürnberg fortgesetzt.  Für die fränkische Metropole sprachen wohl mehrere Gründe, neben dem Umstand, daß die Amerikaner bemüht waren, das Verfahren gegen die führenden Vertreter des nationalsozialistischen Regimes in ihrer Besatzungszone abzuhalten. Der Ort Nürnberg hatte Symbolkraft. Es war die Stadt der Reichsparteitage, es war die Stadt in der am 15. September 1935 auf dem „Reichsparteitag der Freiheit“ mit den berüchtigten Nürnberger Rassengesetzen („Blutschutzgesetz“ und „Reichsbürgergesetz“) die „juristischen Grundlagen“ letztlich für Holocaust und Porajmos vom Reichstag verabschiedet wurden. Schließlich aber verfügte der Nürnberger Justizpalast über ein angeschlossenes Gefängnis und hatte den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. Es mußte lediglich ein hölzerner Verbindungsgang zwischen dem Zellengefängnis und dem Gerichtsgebäude errichtet werden, der eine sichere Überführung der Gefangenen direkt in den Gerichtssaal ermöglichte. In der Dokumentationsausstellung werden neben Bild und Text auch Ton- und Filmdokumente präsentiert, anhand derer man das Geschehen der 218 Verhandlungstage des Hauptprozesses, bei dem 236 Zeugen persönlich gehört, rund 200 000 eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt und 5330 Dokumente zur Beweisführung vorgelegt wurden, in seinen wichtigsten Aspekten verfolgen kann. Am 1. Oktober 1946 wurden die Urteile verkündet: Zwölf der Angeklagten wurden zum Tod durch den Strang verurteilt – am 16. Oktober vollstreckt –, gegen sieben wurden Freiheitsstrafen verhängt, drei wurden freigesprochen.

Es geht um die Täter

Drei Wochen später begannen die Nachfolgeprozesse mit dem „Ärzteprozeß“. Wobei das Team um Hans-Christian Täubrich in Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlichen Beirat auf die Darstellung der Prozesse gegen Ärzte, Juristen, Angehörige von SS und Polizei, Industrielle und Bankiers, Militärs und Regierungsbeamte, die ausschließlich unter amerikanischer Leitung verhandelt wurden, nicht weniger Mühe und Sorgfalt verwandte. 177 Personen mußten sich in den Prozessen, die bis ins Jahr 1949 dauerten, verantworten; 25 Todesurteile wurden gefällt – 13 tatsächlich vollstreckt; 117 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, von denen allerdings 90 schon in den fünfziger Jahren begnadigt oder entlassen wurden; 35 Angeklagte wurden

Eröffnung Memorium

freigesprochen. Die Ausstellung unter dem Dach des Justizgebäudes ist ausführlich, dem Thema angemessen detailgenau und dennoch nicht überladen. Rund 4,2 Millionen Euro haben sich Bund und Land das Projekt, das spät, aber noch nicht zu spät verwirklicht wurde, kosten lassen (die laufenden Kosten übernimmt die Stadt Nürnberg), bei dem es wie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände nur noch konzentrierter um die Täter geht. Es wird gezeigt, daß ein guter Teil der Funktionselite des NS-Regimes für seine Gräueltaten bezahlen mußte; es wird nicht verschwiegen, daß einige recht glimpflich davonkamen; nicht zuletzt wird mit dieser Dokumentation selbst, wie sich Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly in seiner Eröffnungsrede am 21.11.2010 ausdrückte, „Erinnerungsarbeit“ geleistet, die keineswegs beendet sein kann. Auch das Memorium kann die bis heute ungeklärte Frage, wie es zu all diesen Verbrechen überhaupt kommen konnte, nicht beantworten. Vermutlich obliegt es deshalb den Zeitzeugen gerade auch zur Eröffnung, das Bemühen der Fachleute der Museen der Stadt Nürnberg um eine historisch wie moralisch korrekte Aufarbeitung des Geschehens vor 65 Jahren zu beglaubigen. Und das haben sie, die Zeitzeugen, jeder auf seine Art, auch getan. Arno Hamburger, der, in Nürnberg aufgewachsen, ebenfalls mit einem Kindertransport nach Palästina kam,

Arno Hamburger – seit 1972 Vors. der Israelitischen Kultusgemeinde und SPD-Stadtrat in Nuernberg (am 15.02.1923 geboren). Arno Hamburger ist am 26. September 2013 gestorben.

britischer Staatsbürger und Soldat wurde und als Angehöriger der „Jewish Brigade“ 1945 nach Nürnberg zurückkehrte. Nach längerer Suche fand er sogar seine Eltern wieder, die den Nazi-Terror überlebt hatten, da sein Vater schwerste Zwangsarbeit im Gleisbau verrichtete. Von 1946 an war Arno Hamburger als Dolmetscher und Übersetzer bei den Kriegsverbrecherprozessen tätig. So übersetzte er u. a. das Kriegstagebuch von Hitlers Berater, Generaloberst Al­fred Jodl (im Hauptverfahren zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1945 hingerichtet), 15 Oktavhefte mit Bleistift in Sütterlin-Schrift geschrieben, wie schließlich auch zahlreiche Dokumente für den Ärzteprozeß. Arno Hamburger, der nach den Prozessen in Nürnberg blieb und seit 1972 Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde und SPD-Stadtrat ist, zieht zur Eröffnung des Memoriums sogar jene Dokumente aus seiner Aktentasche, die – zumindest teilweise – ohnehin in der Ausstellung gezeigt werden, als müßten diese seine Aussagen bestätigen, obwohl es für alle Anwesenden gerade umgekehrt ist: seine Aussagen bestätigen die Dokumente. Oder der Amerikaner Moritz Fuchs, der ab 1944 als Soldat an verschiedenen Fronten in Europa eingesetzt war. Nach Kriegsende kam er nach Ansbach und erhielt schließlich den Auftrag, künftig als Leibwächter des US-Hauptanklägers Robert H. Jackson zu fungieren, von dessen Seite er bis zum Ende des Prozesses nun nicht mehr wich. Eigentlich hatte Moritz Fuchs Ingenieur werden wollen, aber nach dem Krieg und nach seinen Erlebnissen bei dem Kriegsverbrecherprozess entschloß er sich zum Theologiestudium und wurde Priester. Moritz Fuchs ist ein ruhiger, zurückhaltender Mensch. Nach seinem Besuch des Dokumentationszentrums und seinem Rundgang durch das Memorium stellt er fest, daß Nürnberg stolz sein könne, so seine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Nürnberger Prinzipien

Nicht zu übersehen, obwohl – wie sich der Berichterstatter der SZ, Olaf Przybilla, ausdrücken wird – von „überschaubarer Statur“: der 90-jährige Benjamin Ferencz. Als 27-jähriger, redegewandter Jurist aus New York war er Chefankläger im Nachfolgeprozess gegen die SS-Einsatzgruppen und

Benjamin Ferencz hat im März 2020 seinen 100sten Geburtstag gefeiert.

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sorgte für die Verurteilung (und Hinrichtung) von Otto Ohlendorf, der für den Tod von 90 000 Menschen verantwortlich war. Benjamin Ferencz nutzt die Gelegenheit, als einer der Hauptredner der offiziellen Eröffnungsveranstaltung des Memoriums vor allem dem Vertreter seines Heimatlandes, dem Sonderbotschafter der US-Regierung für Kriegsverbrechen, das „Vermächtnis von Nürnberg“, die Ächtung des Angriffskrieges, wie überhaupt den Umstand, daß aus­gerechnet sein Land das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof nicht ratifiziert, vorzuhalten. Die von den Vereinten Nationen 1950 festgelegten „Nürnberger Prinzipien“ bilden die rechtsgeschichtliche Grundlage für das moderne Völkerstrafrecht“ – auch das wird im Memorium aufgezeigt. Das Internationale Militärtribunal ist das Vorbild des heutigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Benjamin Ferencz, der am Tag nach der offiziellen Eröffnung des Memoriums, wiederum im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes noch einen Vortrag zum Thema „Internationales Recht – Ein Weg zum Weltfrieden“ hält und dafür vom Publikum in dem vollbesetzten Saal begeisterten Beifall erhält, hat für die Haltung seiner Regierung kein Verständnis. Ebensowenig übrigens wie Hedy Epstein. Sie hält keine Rede vor großem Publikum. Sie betrachtet sichtlich angespannt die Bilder der Ausstellung. Schließlich entdeckt sie auf einem der Bilder Herta Oberheuser, die für ihre Menschenversuche im Konzentrationslager Ravensbrück angeklagte Ärztin, die Hedy Epstein noch Jahre später den Schlaf raubte. Mit nun leuchtenden Augen bekennt Hedy Epstein, daß es sie mit Genugtuung erfüllt, dieses Bild hier zu sehen. Damals, im Gerichtssaal, erzählt sie, sei es ihr schlecht geworden, als Herta Oberheuser sich damit zu rechtfertigen versuchte, daß „polnische Frauen ohnehin hätten sterben müssen“. Herta Oberheuser hatte für ihre Versuche in erster Linie junge Polinnen ausgesucht, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. Den Opfern wurden Fäulniserreger, Glas und Holzsplitter in Wunden eingebracht, die ihnen Ärzte zuvor eigens zugefügt hatten und die Verletzungen durch Bombensplitter imitieren sollten. Herta Oberheuser wurde zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, aber bereits nach fünf Jahren entlassen. Kurz danach ließ sie sich im Kreis Segebrecht als Ärztin nieder. Erst aufgrund internationaler Proteste wurde ihr 1958 die Approbation durch das Kieler Innenministerium entzogen. Soweit sich Hedy Epstein erinnert, arbeitete Oberheuser dann in der Küche eines Krankenhauses. Hedy Epstein lebte damals bereits seit zehn Jahren in den USA und arbeitete in einer Rechtsanwaltskanzlei. Ohne sie glorifizieren zu wollen, aber ganz offensichtlich hat sie aus all ihren Erlebnissen klare Konsequenzen gezogen. Sie engagierte sich nun für Opfer von Diskrimierung und für die Rechte rassistisch ausgegrenzter Menschen. In den 1970er Jahren betreute sie Vietnamkriegsdeserteure. Seit 2003 reiste sie mehrfach in die Westbank, um sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen. Noch Ende 2009, 85-jährig, beteiligte sie sich mit etwa 1 400 Aktivisten aus aller Welt am „Gaza Freedom March“ und trat in Ägypten in den Hungerstreik, da den Aktivisten die Einreise über Rafah in den Gazastreifen verweigert wurde. Zeitzeugen, das wird auch anläßlich der Eröffnung des Memorium Nürnberger Prozesse deutlich, sind keineswegs nur mehr oder weniger ergreifende, wandelnde Geschichtsbücher, hört und sieht man genau hin, werden sie – bei allen Schrecknissen, die sie womöglich zu berichten haben – auch Mut machen und Hoffnung verbreiten können. Und das Memorium Nürnberger Prozesse hat dank ihrer seine Eignungsprüfung bestanden. Es ist an uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Benjamin Ferencz gibt ein mögliches Motto vor: „Make law – not war.“

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